Buch zum Durchblättern (Auszug, Seite 38-59)

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Corinna König

„Gedankensuppe an Gemeinschaftsmöhrchen“ tituliert Corinna König ihre Arbeit, aus der ein Buch mit 630 Seiten entstanden ist. Sie präsentierte eine umfangreiche Ansammlung von Zeichnungen auf Schloss „Haus Ruhr“. Die Arbeit lebt von ihrer Konzeption, die die Zeichnung als Medium visueller Kommunikation in ihrer reinsten Form zum Vorschein bringt. Der Autor tritt bewußt in den Hintergrund, stiftet Situationen, Gelegenheiten und Anregungen zur visuellen Artikulation und Kommunikation und wird zum Regisseur, dessen Werk durch die Anderen sichtbar wird.
 
Diplombetreuung: Prof. Jürgen Störr
 
Prof. Dr. Antje Kapust zu der Arbeit von Corinna König:

Kunst aus dem Zwischenraum
 
„Kunst aus dem Zwischen ist keineswegs selbstverständlich, entspricht aber durchaus neueren Ansätzen. Wenn man sich die lange ideengeschichtliche Ausprägung unserer Kategorien (als der Denk- und Sprachwerkzeuge) anschaut, wird eine lange, aber gegenstrebige Konstellation sichtbar.
Auf der einen Seite musste etwas wie ein „Ich“ als Urheber oder Autor eigener Handlungen usw. erst herausgebildet werden (der zu normativen Zwecken auch eine Berechtigung hat). Auf der anderen Seite wird dieses Ich unterlaufen.
 
Die Geschichte begann mit einer Kugel, die in der Antike den Kosmos darstellte, und endet gegenwärtig in der Metapher des Netzes oder des Rhizoms, eines netzartigen Wurzelgeflechtes, in dem sich tausend Fäden verknäulen.1
 
Platon beschreibt in seinem Dialog über die Erschaffung der Welt, wie der Weltenschöpfer (Demiurg) die beiden notwendigen Bestandteile ergreift und sie zu einem Kugel-Kosmos zusammenfügt. Dabei wird der Zirkel bzw. die Achse des Anderen „mit Gewalt“ in die Achse des Selben eingepresst.2
Diese Ineinanderlegung der beiden Achsen sollte eine schmuckvolle Ordnung des Seins (taxis) als taxinomische Kosmogonie ergeben. In dieser Ordnung hat alles seinen Platz und ist benennbar. Das Pferd ist das Pferd, Sokrates ist Sokrates usw. Alles, was vorkommt, wird von der Einheit dieses Kosmos aus gedacht und bekommt von ihr aus Sinn. Das zugehörige Denkmodell ist „Einstrahligkeit“.
Es gibt viele einzelne Erscheinungen, Spiegelungen und Schattenbilder, aber diese lassen sich durch die Orientierung als einstrahlige Ausrichtung auf die Idee, die alle Erscheinungen wie ein Haken bündelt, bewältigen. Dieses Verfahren macht die Welt denkbar, erkennbar und benennbar. Der Maler konnte auf diese Weise tausend verschiedene Blätter malen, weil er die Urfom oder Idee „Blatt“ allgemein kannte. Doch der Maler malte in dieser Ordnung zugleich sein Bild, dass nur ein Abbild des Abbildes (reales Blatt), das wiederum ein Abbild des Urbildes (Idee) war.
 

Seite 64-141:

 
Die christliche Kultur übernahm diese Topologie. Es gibt eine Welt, die Gott als oberste Idee und obersten Schöpfer erschaffen hat, die er zusammenhält.
Auch darin hat alles seinen Platz.
Dieses Denken, dass das Selbst nur ein unbedeutender Teil einer umfassenden und einbettenden All-Einheit wäre, brach in der Neuzeit zusammen mit einer wesentlichen Umstellung.
Die eintretende Wende war eine absolute Revolution. Am Anfang stand nun keine Kugel mehr, sondern ein zweifelndes Ich.
Dieses Ich trat als Urheber seiner eigenen Gedanken und Akte auf (bis auf Ausnahme der Idee des Unendlichen), und zwar im Rahmen einer Zweifelsbewegung, in der ein Fragender versucht, diejenige Wahrheit als absolute Gewissheit zu finden, die ein tragfähiges Fundament verbürgt, das keine Täuschung eines bösen Dämons sei.3
Wenn man alles anzweifeln würde, weil nichts mehr gewiss wäre, würde am Ende etwas übrig bleiben, das nicht weiter angezweifelt werden könnte – nämlich der Zweifelnde selbst in seinem Denken: cogito ergo sum. Ich denke, also bin ich.
Daher wird mit einem Paukenschlag die Welt auf dieses „ich denke“ des Descartes umgestellt. Das moderne Subjekt ist geboren.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann man jedoch mit anderen Möglichkeiten zu laborieren. Zuerst knickte ein bewusstes Ich ein, da es auch von seinen Rändern her begriffen wurde (Traumdeutung Freud usw.)4. In den Vordergrund rückte auch die Existenzialität des Menschen (Kierkegaard im 19. Jahrhundert)5. Der Bewusstseinsstrom, der zwar ein Ich trug, war als Strom jedoch offen und unbestimmt: Es war nicht genau anzugeben, wo dieser aufhörte und wo er entsprang, er führte aber durch das Ich hindurch und verband es fließend mit anderen „Ichen“.6
Kreative Prozesse nahmen eine andere Form und einen anderen Stellenwert an.
Der französische Wissenschaftstheoretiker Gaston Bachelard beschreibt z.B. in seinem Buch „Die Entstehung des wissenschaftlichen Geistes“ (das er auch auf Prozesse wie Poesie usw. überträgt), wie ein Ich quasi seine Ich-heit ablegt und sich einem „onirischen Sein“ (tagträumenden) übergibt.7
Die Ränder sind zerfließend, so dass viele unterschiedliche Bilder, Archetypen, Vorstellungen, Fragmente usw. durchfließen wie in Träumen, die sich nach und nach verdichten, kristallisieren und Formen, Figuren, Netze oder auch Gesetzmäßigkeiten annehmen können.8
Dieses Modell war komplett unterschiedlich vom traditionellen Schöpfergedanken, der besonders in der Neuzeit bei Diderot reflektiert wurde und bei Kant seine Aufgipfelung erfuhr.
 

Seite 199-275:

 
Das Ineinanderschweben und Ineinanderfließen von Fäden und Formen knüpft von allen möglichen verschiedenen Seiten an, verknäuelt sich und etwas tritt hervor. Dieses Modell ist auf andere Fragen übertragbar. Wir sprechen z.B. Deutsch. Doch wo ist diese deutsche Sprache hergekommen? Später in einem Verlauf aus der mittelhochdeutschen Literatur? Aus der Übersetzung als Eindeutschung der Bibel durch Luther? Durch die Gutenberg-Presse? Durch Grimms Märchensammlung als Zusammenstellung der vielen verschiedenen praktizierten mündlichen Geschichten? Durch Goethe und Schiller?
Als Muttersprachler findet der Mensch eine „Masse“ vor, die er aufgreift und formt, z.B. als Schriftsteller.9 Wäre Kehlmanns „Vermessung der Welt“ noch denkbar ohne die mathematische Formelsprache von Gauss darin oder die Brüder Humboldt?
Was wäre Herta Müllers Atemschaukel, wenn es nicht Oskar Pastior mit seiner Dichtung gegeben hätte? Es sind Transformationen und Palimpseste, die sich durchkreuzen und überlagern.
 
Dieses Elaborieren mit neuartigen Modellen ging weiter.
Maßgeblich war im 20. Jahrhundert auch der französische Linguist Ferdinand de Saussure. Er revolutioniert mit einer Umstellung die Bedeutungstheorien. Hatte sich Bedeutung zuvor aus der Beziehung auf ein Einzelnes ergeben (z.B. einen Begriff oder Namen), ergab sie sich nun aus der Differenz, d.h. aus dem Zwischen bzw. aus der Verflechtung von Zwischenräumen.10 Kunst ergab sich jetzt aus der Abweichung, nicht mehr der Ähnlichkeit, die sich als Erkenntnis- und Konstitutionsprinzip von der Antike (Satz des Empedokles) bis zum 20. Jahrhundert als ein roter Leitfaden hingezogen hatte.
 
Dieser Prozess als Destruktion und Dekonstruktion von Einheit begann schon in der Neuzeit mit der Kritik gegen Descartes. Zeitgenossen bemängelten, dass Descartes für seine Theorie zahlreiche Prämissen in Anspruch nehmen müsse, die er aber nicht ausweisen würde. Als Fazit bleibe ein „Zwischen“ übrig, demzufolge zwar Descartes einen „starken“ Satz aufgestellt, aber verschleiert habe, wie dieser nun auf dem Boden dieser vielen „anderen Sätze“ möglich sei (Malebranche, Gassendi usw.).
 

Seite 428-523:

 
Diesen Prozess eines Zwischen bringt Merleau-Ponty als „indirekte Rede und Stimmen des Schweigens“ im Hintergrund zum Ausdruck. Er greift dazu die Metapher des „unterirdischen Stroms“ von Malraux auf.
Merleau-Ponty hatte Malraux’ Konzeption eines unterirdischen geschichtlichen Stroms, der alles in sich vereinigt, als analytische Vision kritisiert, die der Hegelschen Version einer Vernunft in der Geschichte gleichkomme und damit die Wahrnehmungswelt zerbreche. Malraux setzt dem „Strom“ jedoch Momente wie Stil und Emblem, Überschreiten und Nachvollzug entgegen und differenziert zwischen zwei verschiedenen Geschichtlichkeiten.11 Bereits in der Prosa der Welt macht er deutlich, wie heterogene Gestalten in der Tiefe einer gemeinsamen Kulturwelt nicht nur verwickelt sind, sondern zu einem Verhältnis des Selben und des Anderen führen, in welchem der Andere bereits im Selben haust und die Formen des Selben sprengt. Voraussetzung dieser Überkreuzung in einem „Zwischen“ ist die Loslösung einer philosophischen Gestalt aus der biographischen oder personalen Reduktion: So wird Descartes als Institution, als Sinnbild, Emblem und Text gelesen, die sich in der Ideengeschichte abzeichnet, noch bevor sie persönlich auftritt.12
Die Singularität von Descartes besteht nicht darin, „das Individuum Descartes“ zu sein, sondern „einzigartig wie ein Tonfall, ein Stil oder eine Sprache [zu sein], d.h. die Anderen können an ihm Anteil nehmen, er ist mehr als ein Individuum.“ 13 Es kann nicht mehr eindeutig gesagt und festgestellt werden, ob die Verwicklung der verschiedenen Texte in der Tiefe lateral durch eine Abweichung entsteht oder ob eine Abweichung ein Aspekt eines polymorphen und pluridimensionalen, mehrfältigen Überschusses ist:
„[…] Der Okkasionalismus von Malebranche, versteckt in einem Winkel der Dioptrique. […] Wie soll man eine Grenze ziehen zwischen dem, was er gedacht hat und dem, was man von ihm aus gedacht hat?“ 14
Hier handelt es sich nicht um das Problem einer hermeneutischen Horizontverschmelzung, sondern gezeigt wird, dass Descartes selbst schon mehrfältig spricht, sozusagen die Stimmen unbestimmter Anderer in ihm vor- und mitsprechen.
Für den Selben bedeutet dies, dass „Descartes auch all das [ist], was aus ihm hervorgegangen ist.“ 15
Hier liegt der ontologische Rahmen für eine Überdeterminierung chiasmatischer Formen; denn es ist diese Ausstrahlung in Ton und Stil, die es möglich macht, dass die „Gedanken eines jeden im Anderen ein verstecktes Leben führen, zumindest als Unruheherd, und dass einer den Anderen bewegt, wie er von ihm bewegt wird, und mit dem Anderen verquickt ist genau in dem Augenblick, wo er ihn in Frage stellt.“ 16
 

Seite 524-565:

 
Der Strukturalismus verfeinerte diese Sachlage in viele verschiedene Facetten und Richtungen, insbesondere in der Psychoanalyse von Jacques Lacan, der ebenfalls Differenzen in der Bedeutungsbildung zum Ausgangspunkt nahm. Diese Entwicklungen blieben jedoch nicht ohne Folgen für weitere Ausformungen.
Wieviel Camille Claudel ist noch im maßgeblichen Bezugspunkt Rodin sichtbar (um mit dieser Frage möglicherweise C. Claudel selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen)?
Wo hört der Impuls des Einen auf, um als Welle usw. im Anderen weiterzugehen?
Ein Kind brabbelt lange Fetzen als Nachahmungen der Sprache Erwachsener, es knüpft an und kommt erst so zu einem Sprechen im Fluss mit Anderen. Französische Phänomenologen sehen die Hervorbildung eines eigenen Stils als Signatur des Ichs ähnlich: Die Impressionisten u.a. begannen, indem sie zuerst Frühere „nachgemalt“ haben.
Erst allmählich begannen sie sich aus diesem „Brei“ zu lösen, aus diesem „Zwischenraum“, um eine eigene Handschrift zu tragen. Diese fungierte wiederum als Boden bzw. als Geflecht, an dem andere anknüpfen konnten.
 

 

1 Gilles Deleuze/ Felix Guattari, Rhizom, Berlin 1977
2 Platon, Timaios 35a.
3 René Descartes, Meditationen, 1. Meditation, 11. Absatz.
4 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 14. Auflage 2007.
5 Kierkegard- existenz als Vorläufer einer Leiblichkeit
6 Das Konzept vom Bewusstseinsstrom findet sich nicht nur bei Henri Bergson und seiner Lebensphilosophie, sondern zuvor schon in der Phänomenologie Edmund Husserls, aber später auch im amerikanischen Pragmatismus.
7 Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt a.M. 2. Aufl. 1987. auch in seinen anderen Büchern.
8 Eine „Kristallisation“ zieht sich wie eine durchgängige Metapher durch das Werk von Merleau-Ponty, vor allem auch durch das Spätwerk „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ (München 1984).
9 Die frz. Philosophie beschreibt dieses nicht einholbare Vorausgehbare in versch. Mataphern, als „es gibt“ bei Foucault usw.
10 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 3. Aufl. 2001. Der Strukturalismus entstand aus diesem Anstoß.
11 Maurice Merleau-Ponty, Prosa der Welt, München 2. Aufl. 1993, S. 89, 92f., 96, 101.
12 Ebd., S. 111.
13 Ebd., S. 116 (Zusatz von Antje Kapust)
14 Ebd., S. 111.
15 Ebd., S. 111 (Zusatz von Antje Kapust)
16 Ebd., S. 113.